Fallbesprechung: Linkes Bündnis gegen Antisemitismus München

Als No-SLAPP-Anlaufstelle zum Schutz publizistischer Arbeit in Deutschland dokumentieren wir Fälle, bei denen wir kontaktiert wurden und Anhaltspunkte dafür sehen, die darauf hindeuten, dass es sich nach den Kriterien der EU Richtlinie 2024/1069 sowie den Empfehlungen des Europarats um SLAPP bzw. damit verbundene rechtliche Einschüchterungsformen handeln könnte. Rechtsmissbräuchliche Schritte können auch außergerichtlich zum Einsatz kommen, deshalb dokumentieren wir auch für Fälle, bei denen es (noch) zu keinem gerichtlichen Verfahren gekommen ist, wenn einschlägige Kriterien erfüllt sind .

Wir veröffentlichen unsere Fallbesprechungen in Rücksprache mit den Betroffenen. Maßgeblich sind dabei die Kategorien unseres Fragebogens, der über www.noslapp.de abgerufen werden kann. Der Fragebogen bietet Betroffenen die Möglichkeit, ihren Fall detailliert zu beschreiben und so abzuklären, ob sie womöglich von einem juristischen Einschüchterungsversuch betroffen sind - bei Bedarf auch ergänzt durch persönliche Beratung.

Im Folgenden finden Sie Hintergrundinformationen zum Fall des Linken Bündnis Gegen Antisemitismus (LBGA) München, das den Auftritt eines Sängers öffentlich kritiserte und dafür von einer Veranstaltungslocation abgemahnt wurde.

Hintergrund des Falls

Das LBGA München veröffentlichte Mitte 2024 auf seinem Blog einen kritischen Artikel über den angekündigten Auftritt des Frei.Wild-Sängers Philipp Burger im Münchner Backstage am 30. September 2024. Der Artikel wurde nach der Abmahnung vom 22. Juli 2024 geändert, was aktuell auch in der Überschrift des Beitrags erwähnt wird.

In dem ausführlichen Artikel setzt sich das LBGA München kritisch mit der Ankündigung des Konzerts seitens des Backstage auseinander, das ein vorab veröffentlichtes Statement zur Rechtfertigung des Konzerts abgegeben hatte. Das Backstage hatte den Sänger Burger als vorbildlich dargestellt und betont, der Auftritt sei "äußerst wichtig im Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Extremismus und Gewalt".

Das LBGA widersprach dieser Darstellung und analysierte systematisch Textstellen aus Frei.Wild-Songs sowie öffentliche Aussagen Burgers, die aus der Sicht des LBGA antisemitische und geschichtsrevisionistische Inhalte enthalten. Besonders kritisiert wurde dabei der Song "Wir reiten in den Untergang", in dem das Bündnis eine Holocaustrelativierung durch die Gleichsetzung des Judensterns mit einem "Stempel" sieht, der heute Kritikern der Band aufgedrückt werde. Diese Interpretation stützt das LBGA durch ein Focus-Interview von 2013, in dem Burger diese Analogie explizit verteidigt.

Darüber hinaus analysierte der Artikel weitere Songs und Aussagen Burgers, die aus Sicht des LBGA antisemitische Stereotype bedienen, etwa die Behauptung, dass "Profiteure" vom Holocaust-Gedenken finanziell profitierten. Das Bündnis kritisiert auch transfeindliche Äußerungen Burgers bei seinem Auftritt in der Münchner Olympiahalle 2023 sowie seine unaufrichtige Darstellung seiner rechtsextremen Vergangenheit.

Das LBGA positioniert sich dabei als Teil einer breiteren kritischen Öffentlichkeit, die bereits in der Vergangenheit Auftritte von Frei.Wild in München kritisiert hatte. So wird auf einen gemeinsamen offenen Brief mit dem Verband Jüdischer Studenten in Bayern aus dem Jahr 2023 verwiesen sowie auf einen früheren Artikel von 2020, den das LBGA zusammen mit der Antisexistischen Aktion München und dem Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft München verfasst hatte.

Der Artikel stellt eine fundierte politische Meinungsäußerung zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse dar. Er behandelt Fragen des Umgangs mit Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus und der Verantwortung kultureller Institutionen. Das LBGA argumentiert dabei nicht nur mit eigenen Interpretationen, sondern bezieht sich auf Einschätzungen von Rechtsextremismusexperten, zitiert ausführlich aus öffentlich zugänglichen Interviews und Liedtexten und belegt seine Kritikpunkte systematisch.

Teil 2: Anhaltspunkte für SLAPP - nach den Kriterien der EU-Richtlinie 2024/1069 sowie nach den Empfehlungen des Europarats CM/Rec(2024)2

Öffentliche Beteiligung zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse

Das LBGA ordnet seine Aktivitäten als "politische Meinungsäußerung" und "Pressetätigkeit / Informationsfreiheit" ein. Der thematische Bereich wird als "Tätigkeiten einer natürlichen oder juristischen Person, die eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens im öffentlichen oder privaten Sektor ist" kategorisiert, was auf Philipp Burger als öffentliche Person zutrifft. Der Fall erfüllt die Voraussetzungen für öffentliche Beteiligung zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse gemäß EU-Richtlinie 2024/1069.

Machtungleichgewicht

Das LBGA ist ein Zusammenschluss von Personen oder Organisationen ohne eigene Rechtspersönlichkeit. Rechtlich vertreten wurde das LBGA zu dem Zeitpunkt von der Münchner Grünen Jugend, den Falken München sowie der Linksjugend Solid München - diese Organisationen wurden entsprechend auch abgemahnt. Das Backstage als kommerzielle Veranstaltungslocation verfügt über eine eigene Rechtsform und offenbar auch über finanzielle Mittel u.A. zur Beauftragung eines Anwalts. Diese Konstellation entspricht dem klassischen SLAPP-Muster eines finanzstärkeren Akteurs gegen eine ehrenamtliche politische Initiative.

Unverhältnismäßig hoher Streitwert und kurze Fristen als Druckmittel

Besonders auffällig ist der Streitwert von 82.000 Euro. Dieser liegt deutlich über den üblichen Streitwerten für äußerungsrechtliche Auseinandersetzungen und erscheint für einen kritischen Blog-Artikel einer politischen Initiative völlig überzogen. Der hohe Streitwert führt zu entsprechend hohen Prozesskosten und entfaltet damit eine erhebliche Abschreckungswirkung. Dies ist ein klassisches SLAPP-Merkmal: Die Nutzung überhöhter Streitwerte zur finanziellen Einschüchterung der Beklagten. Außerdem wurden dem LBGA kurze Antwort-Fristen gesetzt.

Einschüchterungsmotive und Chilling Effect

Das LBGA identifiziert als Motive hinter den rechtlichen Schritten sowohl die "Unterbindung der konkreten öffentlichen Äußerung" als auch die "allgemeine Einschüchterung unseres Kontextes". Dies entspricht typischen SLAPP-Zielen: Nicht nur die konkrete kritische Äußerung zu stoppen, sondern darüber hinaus eine abschreckende Wirkung auf zukünftige Kritik zu entfalten. Der bereits eingetretene Chilling Effect zeigt sich daran, dass das LBGA den Artikel nach der Abmahnung geändert hat.

Rechtmäßigkeit der kritisierten Aktivitäten

Das LBGA selbst gab gegenüber der Anlaufstelle an, dass seine öffentlichen Aktivitäten "wahrscheinlich" rechtmäßig waren, es aber "dahingehend eine Beratung" bräuchte. Diese Unsicherheit ist charakteristisch für SLAPP-Betroffene, die durch die rechtlichen Drohungen verunsichert werden, obwohl ihre Äußerungen im Rahmen der Meinungsfreiheit erfolgt sind. Der ausführliche, gut belegte Artikel des LBGA deutet auf sorgfältige journalistische Arbeit hin, die grundsätzlich von der Meinungsfreiheit gedeckt sein dürfte.

Gesamtbewertung

Die Kombination aus dem dokumentierten Hintergrund und den Fragebogen-Angaben ergibt ein eindeutiges Bild: Der Fall weist viele charakteristischen Merkmale eines SLAPPs auf. Besonders die Häufung verschiedener Indikatoren (Machtungleichgewicht, überhöhter Streitwert, unverhältnismäßige Forderungen, Einschüchterungstaktiken, kurze Fristen) macht deutlich, dass es sich nicht um eine normale zivilrechtliche Auseinandersetzung handelt, sondern um den strategischen Einsatz rechtlicher Mittel zur Unterdrückung legitimer Kritik.

Der hohe Streitwert von 82.000 Euro ist dabei besonders problematisch, da er für eine ehrenamtliche politische Initiative eine existenzielle Bedrohung darstellt und damit die Meinungsfreiheit faktisch aushebelt. Dies entspricht genau dem Muster, das die EU-Richtlinie 2024/1069 bekämpfen will: Die Instrumentalisierung des Rechtssystems zur Einschüchterung kritischer Stimmen in Angelegenheiten von öffentlichem Interesse.

Der Fall zeigt exemplarisch, wie wichtig es ist, zivilgesellschaftliche Akteure vor solchen strategischen Einschüchterungsversuchen zu schützen, insbesondere wenn sie sich mit sensiblen Themen wie Antisemitismus und demokratischen Werten auseinandersetzen. 

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