Fallbesprechung: Royal Knitting Workers & Clean Clothes Campaign
Als No-SLAPP-Anlaufstelle zum Schutz publizistischer Arbeit in Deutschland dokumentieren wir Fälle, bei denen wir kontaktiert wurden und Anhaltspunkte dafür sehen, die darauf hindeuten, dass es sich nach den Kriterien der EU Richtlinie 2024/1069 sowie den Empfehlungen des Europarats um SLAPP bzw. damit verbundene rechtliche Einschüchterungsformen handeln könnte. Rechtsmissbräuchliche Schritte können auch außergerichtlich zum Einsatz kommen, deshalb dokumentieren wir auch für Fälle, bei denen es (noch) zu keinem gerichtlichen Verfahren gekommen ist, wenn einschlägige Kriterien erfüllt sind .
Wir veröffentlichen unsere Fallbesprechungen in Rücksprache mit den Betroffenen. Maßgeblich sind dabei die Kategorien unseres Fragebogens, der über www.noslapp.de abgerufen werden kann. Der Fragebogen bietet Betroffenen die Möglichkeit, ihren Fall detailliert zu beschreiben und so abzuklären, ob sie womöglich von einem juristischen Einschüchterungsversuch betroffen sind - bei Bedarf auch ergänzt durch persönliche Beratung.
Im Folgenden finden Sie Hintergrundinformationen zum Fall der international tätigen Clean Clothes Campaign, die sich für die Rechte von 209 Arbeiter:innen aus Myanmar einsetzt und dabei in Konflikt mit der deutschen OTTO Group gerät, sowie Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen SLAPP im Sinne der EU-Richtlinie sowie der Empfehlungen des Europarats handelt.
Hintergrund des Falls
Bei dem vorliegenden Fall handelt es sich um eine komplexe arbeitsrechtliche und menschenrechtliche Auseinandersetzung, die sowohl die Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten als auch Fragen der unternehmerischen Sorgfaltspflicht in globalen Lieferketten betrifft. Im Zentrum stehen 209 Arbeiter:innen aus Myanmar, die bis Januar 2020 in der Royal Knitting Fabrik in Thailand Kleidung für Marken der OTTO Group produzierten.
Im April 2020, im Zuge der COVID-19-Pandemie, wurden die Arbeiter:innen ohne Vorankündigung entlassen, wobei ihnen sowohl bereits geleistete Löhne als auch gesetzlich zustehende Abfindungen vorenthalten wurden. Über 90 Prozent der Betroffenen sind Frauen aus Myanmar, die als Migrant:innen in einer besonders vulnerablen Position stehen. Ein thailändisches Gericht bestätigte die Rechtmäßigkeit der Forderungen und verurteilte die Fabrik zur Zahlung von knapp einer Million US-Dollar.
Die Clean Clothes Campaign (CCC), eine internationale Koalition aus Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften, die sich für Arbeitsrechte in der Textilindustrie einsetzt, unterstützte die Forderungen der Arbeiter:innen. Am 19. Februar 2025 reichte die CCC im Namen von zehn Arbeiter:innen eine Beschwerde beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) ein, in der behauptet wird, dass OTTO seine Sorgfaltspflichten nach dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz verletzt habe.
Der rechtliche Konflikt betrifft die Frage der Verantwortlichkeit der OTTO Group. Während OTTO behauptet, dass die direkte Vertragsbeziehung zur Royal Knitting Fabrik bereits 2017 endete und danach nur noch mit der Muttergesellschaft Yamaken Apparel kontraktiert wurde, belegen die Arbeiter:innen durch Packungsanweisungen, Bestellformulare und Kleidungsetiketten, dass sie bis zur Schließung der Fabrik weiterhin Produkte für OTTO-Marken wie Rick Cardona und Ambria herstellten. Diese Dokumente stimmen nach Angaben der CCC mit Versandaufträgen überein, die OTTO selbst zur Verfügung gestellt hatte.
Seit 2021 führt die CCC Gespräche mit OTTO, um eine Lösung für die betroffenen Arbeiter:innen zu erreichen. Das Unternehmen bestreitet jedoch eine relevante Lieferkettenverbindung und lehnt daher jede Verantwortung ab. Stattdessen reagierte OTTO mit rechtlichen Drohungen: Als die Kampagne für Saubere Kleidung (CCC Deutschland), die Deutsche Koalition der internationalen Clean Clothes Campaign im Mai 2024 erstmals Informationen zu diesem Fall veröffentlichte, versendete OTTO umgehend Unterlassungsaufforderungen mit dem Vorwurf der Rufschädigung. Diese Maßnahme führte dazu, dass die CCC Deutschland im Juli 2024 eine Unterlassungserklärung zu spezifischen Formulierungen unterzeichnete, ohne dass jedoch die Substanz des Falls oder die Richtigkeit der zugrundeliegenden Behauptungen gerichtlich geprüft worden wäre.
Als das CCC International Office im Februar 2025 ihre Kampagne startete, kontaktierte OTTO das Büro erneut und forderte Änderungen an faktisch korrekten und anwaltlich geprüften Texten. Das Unternehmen drohte mit rechtlichen Schritten, falls diese Forderungen nicht erfüllt würden. Aufgrund dieser Drohungen arbeitet die CCC nun präventiv mit einem Anti-SLAPP-Anwalt zusammen, um ihre Kommunikation rechtlich abzusichern.
Die OTTO Group, ein Familienunternehmen mit einem Jahresumsatz von etwa 15 Milliarden Euro, positioniert sich öffentlich als Vorreiter bei der Einhaltung von Menschenrechten und formuliert auf ihrer Website, "Verantwortung für unser Handeln entlang der gesamten Wertschöpfungskette" zu übernehmen. Gleichzeitig verweigerte das Unternehmen wiederholt Einladungen zu gutwilligen Verhandlungen und direkten Gesprächen mit den Arbeiter:innen, zuletzt im November 2024.
Anhaltspunkte für SLAPP - nach den Kriterien der EU-Richtlinie 2024/1069 sowie nach den Empfehlungen des Europarats CM/Rec(2024)2
Geltungsbereich der EU-Richtlinie
Der vorliegende Fall erfüllt die grundlegenden Voraussetzungen für die Anwendung der EU-Richtlinie 2024/1069. Es handelt sich um eine Zivil- und Handelssache mit grenzüberschreitendem Bezug, da OTTO als deutsches Unternehmen gegen die international tätige Clean Clothes Campaign vorgeht. Die rechtlichen Drohungen zielen auf die Unterlassung bestimmter Aussagen ab, was dem zivilrechtlichen Bereich zuzuordnen ist.
Die Clean Clothes Campaign erfüllt eindeutig die Kriterien einer "öffentlichen Beteiligung" im Sinne der Richtlinie. Als juristische Person äußert sie sich in Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse. Die Arbeitsbedingungen in globalen Lieferketten, insbesondere die Verweigerung von Löhnen und Abfindungen für 209 Arbeiter:innen, betreffen sowohl Grundrechte als auch die Tätigkeiten einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens (OTTO als bekanntes Unternehmen). Der Fall berührt außerdem Vorwürfe verwaltungsrechtlicher Verstöße im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Sorgfaltspflichten nach dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz.
Charakteristische SLAPP-Indikatoren
Obwohl bislang noch keine formelle Klage eingereicht wurde, weist der Fall mehrere typische Merkmale strategischer Klagen gegen öffentliche Beteiligung auf. Die EU-Richtlinie erfasst nicht nur bereits anhängige Gerichtsverfahren, sondern auch deren Androhung, wenn diese zur Einschüchterung eingesetzt wird.
Machtungleichgewicht: Das Machtungleichgewicht zwischen den Parteien ist erheblich. OTTO ist ein Familienunternehmen mit einem Jahresumsatz von etwa 15 Milliarden Euro, während die Clean Clothes Campaign als NGO über deutlich begrenztere finanzielle Ressourcen verfügt. Besonders problematisch ist, dass die ausstehenden Löhne der Arbeiter:innen nur 0,000058 Prozent des Jahresumsatzes von OTTO entsprechen, was die Unverhältnismäßigkeit der Verweigerung einer Problemlösung verdeutlicht.
Einschüchterung und Drohungen: OTTO setzte wiederholt auf rechtliche Einschüchterung statt auf sachliche Auseinandersetzung. Bereits im Mai 2024 versendete das Unternehmen umgehend Unterlassungsaufforderungen, nachdem CCC Deutschland erstmals über den Fall berichtet hatte. Diese führten dazu, dass CCC Deutschland im Juli 2024 eine Unterlassungserklärung zu spezifischen Formulierungen unterzeichnete. Im Februar 2025 drohte OTTO erneut mit rechtlichen Schritten gegen die CCC International Office, obwohl die beanstandeten Texte faktisch korrekt und anwaltlich geprüft waren.
Verweigerung sachlicher Auseinandersetzung: Besonders aufschlussreich ist OTTOs Verweigerung, sich sachlich mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen. Das Unternehmen lehnte seit 2021 wiederholt Einladungen zu direkten Gesprächen mit den betroffenen Arbeiter:innen ab und verweigerte gutwillige Verhandlungen. Statt die umfangreichen Belege der Arbeiter:innen (Packungsanweisungen, Bestellformulare, Etiketten) sachlich zu prüfen, dismissierte OTTO diese pauschal als "unkontrollierbare Dokumente, die überall auftauchen können".
Strategischer Charakter der rechtlichen Maßnahmen
Die rechtlichen Schritte von OTTO zielen erkennbar nicht primär auf die Durchsetzung legitimer Ansprüche ab, sondern auf die Verhinderung kritischer Berichterstattung. Dies zeigt sich in mehreren Aspekten:
Timing und Wiederholung: OTTO reagierte jeweils umgehend auf Veröffentlichungen der CCC mit rechtlichen Drohungen, was auf eine systematische Strategie zur Unterdrückung kritischer Stimmen hindeutet. Die Wiederholung dieser Taktik bei verschiedenen CCC-Organisationen (Deutschland und International Office) verstärkt diesen Eindruck.
Unverhältnismäßigkeit der Reaktion: Während OTTO über Jahre hinweg die Lösung des zugrundeliegenden Problems mit den Arbeiter:innen verweigerte, reagierte das Unternehmen außerordentlich schnell und scharf auf jede öffentliche Kritik. Diese Prioritätensetzung lässt darauf schließen, dass der Schutz des Unternehmensimages wichtiger ist als die Lösung der Menschenrechtsproblematik.
Chilling Effect: Die rechtlichen Drohungen zeigen bereits Wirkung, indem sie die CCC dazu zwingen, präventiv mit Anti-SLAPP-Anwält:innen zusammenzuarbeiten und ihre Kommunikation entsprechend anzupassen. Dies bindet Ressourcen, die eigentlich für die Unterstützung der betroffenen Arbeiter:innen benötigt würden.
Bewertung nach EU-Richtlinie
Die fachliche Analyse des Falls durch die No SLAPP Anlaufstelle kommt zu dem Schluss, dass trotz des Fehlens einer formellen Klage aufgrund der weiten Auslegung des SLAPP-Begriffs ein strategischer Missbrauch rechtlicher Instrumente vorliegt. Die Drohung mit rechtlichen Schritten wird gezielt eingesetzt, um die Berichterstattung zu unterbinden oder zu verändern.
Besonders problematisch ist, dass die Unterlassungserklärung von CCC Deutschland im Juli 2024 nur spezifische Formulierungen betraf, ohne dass die Substanz des Falls oder die Richtigkeit der zugrundeliegenden Behauptungen gerichtlich geprüft wurde. OTTO nutzt diese formale Unterlassungserklärung nun strategisch, um den Eindruck zu erwecken, als seien die Vorwürfe insgesamt gerichtlich als unbegründet befunden worden.
Strukturelle Dimension des Falls
Der Fall illustriert ein strukturelles Problem im Umgang mit Kritik an unternehmerischen Menschenrechtsverletzungen. Während die betroffenen Migrant:innen aus Myanmar in einer besonders vulnerablen Position stehen und seit fast fünf Jahren auf ihre rechtmäßigen Löhne warten, nutzt ein finanzstarkes Unternehmen rechtliche Instrumente, um kritische Berichterstattung über diese Situation zu unterbinden.
Die Tatsache, dass OTTO öffentlich behauptet, "Verantwortung für unser Handeln entlang der gesamten Wertschöpfungskette" zu übernehmen, während es gleichzeitig jede Verantwortung für die Situation der Arbeiter:innen bestreitet und kritische Stimmen rechtlich unter Druck setzt, verdeutlicht die strategische Dimension des Vorgehens. Es geht erkennbar nicht um die sachliche Klärung von Verantwortlichkeiten, sondern um den Schutz des Unternehmensimages durch Unterdrückung kritischer Öffentlichkeit.
Nach den Kriterien der EU-Richtlinie 2024/1069 und den Empfehlungen des Europarats weist dieser Fall daher deutliche Merkmale einer strategischen Klage gegen öffentliche Beteiligung auf, auch wenn formal noch kein Gerichtsverfahren eingeleitet wurde.