Ein Jahr No SLAPP Anlaufstelle: Kritisch bleiben, trotz aller Einschüchterungsversuche
Von der Abwehr zur Offensive: Wie kritische Stimmen in Deutschland trotz juristischer Einschüchterungsversuche lauter werden
Die Einschüchterungswelle brechen
Als wir am 16. Mai 2024 unsere Arbeit offiziell aufnahmen, war für viele der Begriff "SLAPP" noch ein Fremdwort. Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung – das klang für die meisten nach einem abstrakten juristischen Problem, weit entfernt von ihrem eigenen Alltag.
Doch hinter diesem sperrigen Begriff verbirgt sich ein ganz konkreter Kampf um unsere demokratische Öffentlichkeit. Bei SLAPPs geht es nicht um legitime Rechtsstreitigkeiten – es geht um Macht, Einschüchterung und den Versuch, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Durch die Flut an Abmahnungen, einstweiligen Verfügungen und Unterlassungsklagen sollen unliebsame Kritiker*innen mundtot gemacht und die öffentliche Aufmerksamkeitsökonomie bestochen werden: Wer seine Zeit und Ressourcen für juristische Auseinandersetzungen aufwenden muss, kann nicht recherchieren, berichten oder aktiv sein; und wer nur noch von aktuellen Gerichtsverfahren und -entscheidungen liest und hört, beschäftigt sich weniger mit den dahinter verborgenen gesellschaftlich relevanten Debatten.
Vom Einzelfall zum strukturellen Problem
In unserem ersten Jahr haben wir zahlreiche Fälle betreut (wir veröffentlichen kontinuierlich Fallbesprechungen über den Blog der Anlaufstelle) und sensibilisierende Gespräche geführt. Dabei wurde deutlich: Was viele Betroffene als individuelles Problem wahrnehmen, ist tatsächlich ein strukturelles Phänomen. Der Journalist, der über Protest berichtet und plötzlich selbst als Aktivist belangt wird. Die Bürgerinitiative, die ein umstrittenes Bauprojekt kritisiert und gleich mehrfach rechtlich belangt wird. Der Umweltaktivist, der sich für eine satirische Aktion gerichtlich verantworten muss.
Diese Erfahrungen haben uns in unserer Überzeugung bestärkt: Wir müssen wegkommen vom individuellen "Was darf ich?" hin zu einem kollektiven "Wie verteidigen wir gemeinsam unsere kritische Öffentlichkeit?". Denn genau das ist das SLAPP-Spiel: Ein rechtliches Monopoly bei treffender Kritik, das darauf abzielt, Einzelne zu isolieren und einzuschüchtern.
Von David gegen Goliath zu vernetzter Resilienz
Das Bild von David gegen Goliath beschreibt die Ausgangslage bei SLAPPs treffend: Auf der einen Seite stehen finanzkräftige Unternehmen, Politiker*innen oder Prominente mit spezialisierten Anwaltskanzleien. Auf der anderen Seite finden sich oft Einzelpersonen oder kleine Organisationen mit begrenzten Ressourcen.
In diesem ungleichen Kampf hat die No SLAPP Anlaufstelle ihre Arbeit auf drei Säulen aufgebaut:
Sensibilisierung und Unterstützung für Betroffene: Von der Ersteinschätzung und ggf Vermittlung einer rechtlichen Beratung bis hin zur psychosozialen Unterstützung, bei Präventionsschulungen oder auch reaktiv.
Vernetzung und öffentliche Kommunikation: In Zusammenarbeit mit Journalist*innenverbänden, Umweltorganisationen, Wissenschaftsinstitutionen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren werden regelmäßig konkrete Fallbeispiele und anderes Wissenswertes zum Themenbereich SLAPP öffentlich zugänglich gemacht
Politische Arbeit: Unser Einsatz für eine ambitionierte Umsetzung der EU-Anti-SLAPP-Richtlinie 2024/1069 in deutsches Recht, die über die Mindeststandards hinausgeht.
Diese Strategie zeigt Wirkung. Immer mehr Betroffene erkennen: Sie sind nicht allein. Und immer mehr SLAPP-Kläger*innen müssen erfahren: Ihre Einschüchterungsversuche erreichen oft das Gegenteil.
Getroffene Hunde bellen: Erfolgsgeschichten aus einem Jahr Anti-SLAPP-Arbeit
Oft sind es gerade die treffsichersten Recherchen und die wichtigsten kritischen Stimmen, die mit rechtlichen Mitteln bekämpft werden.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist der Fall eines Investigativjournalisten, der seit 2022 über mutmaßliche Korruptionsfälle bei der Vergabe von Flüchtlingsunterkünften in Brandenburg berichtet. Seine Recherchen führten zu Veröffentlichungen in Focus Online, der Berliner Zeitung und anderen Medien. Die Reaktion der beschuldigten Landkreisverwaltung: Fünf erfolglose Unterlassungsverfahren und schließlich eine Beschwerde beim Presserat – ein klassisches Beispiel für das SLAPP-Spiel.
Trotz aller juristischen Angriffe ließ sich der Journalist nicht einschüchtern. Im Gegenteil: Er setzte seine Recherchen fort und konnte weitere Belege für die ursprünglich kritisierten Praktiken sammeln. Auch andere Medien griffen das Thema auf. Die abschreckende Wirkung trat jedoch bei lokalen Medien ein: Die MAZ meidet das Thema trotz eigener Einschätzung als "ideal geeignet", der RBB berichtet nur fragmentarisch. Hier zeigt sich der eigentliche Erfolg von SLAPPs – nicht im Gerichtssaal, sondern in der Selbstzensur anderer.
Der Fall verdeutlicht: Wer mit seiner Kritik ins Schwarze trifft, muss mit juristischen Gegenangriffen rechnen. Aber er zeigt auch: Mit Hartnäckigkeit, professioneller Unterstützung und dem Mut, das SLAPP-Spiel öffentlich zu machen, können kritische Stimmen erfolgreich sein.
Wir haben was richtig gemacht
Dieses und viele weitere Beispiele zeigen: SLAPPs können abgewehrt werden. Und mehr noch: Sie können zum Bumerang für diejenigen werden, die sie einsetzen.
Unsere Erfahrung zeigt aber auch: Es braucht dafür Wissen, Ressourcen und Vernetzung. Deshalb haben wir im vergangenen Jahr:
Schulungen für verschiedene Zielgruppen durchgeführt
Ein Netzwerk von 18 spezialisierten Anwält*innen und Rechtsexpert*innen aufgebaut
Erste Kapitel für ein Handbuch zur SLAPP-Prävention und -Abwehr entwickelt
Durch politische Arbeit zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit sowie der Richter*innenschaft hinsichtlich der deutschen Umsetzung der EU-Anti-SLAPP-Richtlinie beigetragen
Besonders wichtig war uns dabei die zielgruppenspezifische Unterstützung. Denn ein SLAPP gegen eine Journalistin erfordert andere Strategien als einer gegen einen Umweltaktivisten oder eine Wissenschaftlerin.
Vom Abwehrkampf zum demokratischen Engagement
Ein Jahr No SLAPP Anlaufstelle hat gezeigt: Es geht um mehr als einzelne Rechtsfälle – es geht um unsere demokratische Kultur.
Die zunehmende Verrechtlichung des öffentlichen Diskurses führt dazu, dass Themen von gesellschaftlicher Relevanz aus der öffentlichen Debatte in die juristische Sphäre verschoben werden. Anstelle öffentlicher Deliberation tritt gerichtliche Wahrheitsfindung und richterliche Entscheidung. Das ist eine Entwicklung, die unsere Demokratie schwächt.
Deshalb verstehen wir unsere Arbeit als Beitrag zur demokratischen Resilienz. SLAPP-Sensibilisierung muss dazu beitragen, dass kritische Themen wie Rechtsextremismus, Korruption oder soziale Ungleichheit trotz Einschüchterungsversuchen thematisiert werden können.
Ausblick: Die nächsten Schritte
Im kommenden Jahr werden wir unsere Arbeit weiter intensivieren:
SLAPP-Frühwarnsystem: Durch bessere Vernetzung und Dokumentation wollen wir potenzielle SLAPPs frühzeitig erkennen und schneller reagieren.
Verstetigung der Präventionsarbeit: Mit zielgruppenspezifischen Schulungen und unserem Handbuch helfen wir, SLAPPs von vornherein zu vermeiden oder sich besser darauf vorzubereiten.
Ausbau der öffentlichen Falldokumentation: Um dem Phänomen SLAPP möglichst viele konkrete Gesichter zu geben, und gleichzeitig über geslappte Veröffentlichungen erst recht zu sprechen
Kooperation mit anderen Anlauf- und Beratungsstellen: Insbesondere zur Kompensierung der psychoszialen Folgen durch SLAPPs
Engagement für rechtliche Verbesserungen: Die anstehende Umsetzung der EU-Anti-SLAPP-Richtlinie in deutsches Recht bietet die Chance, wirksame Schutzmechanismen zu verankern. Dafür setzen wir uns ein – mit klaren Forderungen:
Abschaffung des "fliegenden Gerichtsstands"
Einführung eines beschleunigten Verfahrens zur frühzeitigen Abweisung von SLAPPs
Sanktionen für missbräuchliche Klagen
Umfassende Kostenerstattung für SLAPP-Betroffene
Gemeinsam gegen SLAPPs: Ein Aufruf zur Mitarbeit
Als wir vor einem Jahr unsere Arbeit begannen, war das Bewusstsein für SLAPPs gering. Heute sprechen immer mehr Menschen über das Problem – und mehr noch: Sie organisieren sich dagegen.
Diesen Schwung wollen wir nutzen. Denn SLAPPs sind mehr als individuelle rechtliche Auseinandersetzungen – sie sind Angriffe auf den demokratischen Diskurs selbst. Nur durch gemeinsames, strategisches Handeln und eine kluge Kommunikationsstrategie können wir diese Bedrohung abwehren und eine kritische, lebendige Öffentlichkeit bewahren.
Eine demokratische Gesellschaft braucht Menschen, die den Mut haben, Missstände aufzudecken und zu kritisieren. Diesen Mut müssen wir durch gegenseitige Unterstützung, strategisches Handeln und klare Kommunikation stärken.
Die No SLAPP Anlaufstelle ist ein Projekt von Blueprint for Free Speech e.V. in Kooperation mit Reporter ohne Grenzen, DJV, dju in ver.di, FragDenStaat und Aktion gegen Arbeitsunrecht und gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Weitere Informationen unter www.noslapp.de