Fallbesprechung: Rechtliche Schritte wegen eines geteilten Facebook-Beitrags
Als No-SLAPP-Anlaufstelle zum Schutz publizistischer Arbeit in Deutschland dokumentieren wir Fälle, bei denen wir kontaktiert wurden und Anhaltspunkte dafür sehen, die darauf hindeuten, dass es sich nach den Kriterien der EU Richtlinie 2024/1069 sowie den Empfehlungen des Europarats um SLAPP bzw. damit verbundene rechtliche Einschüchterungsformen handeln könnte. Rechtsmissbräuchliche Schritte können auch außergerichtlich zum Einsatz kommen, deshalb dokumentieren wir auch für Fälle, bei denen es (noch) zu keinem gerichtlichen Verfahren gekommen ist, wenn einschlägige Kriterien erfüllt sind .
Wir veröffentlichen unsere Fallbesprechungen in Rücksprache mit den Betroffenen. Maßgeblich sind dabei die Kategorien unseres Fragebogens, der über www.noslapp.de abgerufen werden kann. Der Fragebogen bietet Betroffenen die Möglichkeit, ihren Fall detailliert und anonym zu beschreiben und so abzuklären, ob sie womöglich von einem juristischen Einschüchterungsversuch betroffen sind - bei Bedarf auch ergänzt durch persönliche Beratung.
Im Folgenden finden Sie Hintergrundinformationen zu dem Fall eines Autor, der einen Facebook-Beitrag repostete und dafür belangt wurde, sowie Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen SLAPP im Sinne der EU-Richtlinie sowie der Empfehlungen des Europarats handelt.
Hintergrund des Falls
Der vorliegende Fall betrifft einen Schriftsteller, Publizisten und Journalisten, der auf Facebook im September 2018 einen Spiegel-Online-Artikel mit einem DPA-Foto zum Thema "Rechtsextreme Demonstration in Chemnitz" geteilt hat. Der Betroffene versah den Artikel mit einem eigenen politischen Kommentar: "Die Hetzer und Angsthasen sind jetzt eine Front: AfD, Höcke, NPD, Hooligans und Pegida in Chemnitz."
Mehr als sechs Jahre später erhielt er nun eine Schadensersatzforderung in Höhe von 2.995,45 EUR vom Rechtsanwaltsbüro KSP aus Hamburg, das im Auftrag der dpa Picture-Alliance GmbH handelt. Die Forderung setzt sich zusammen aus:
2.000 EUR Schadensersatz
85 EUR Dokumentationskosten
674,65 EUR Zinsen (für den Zeitraum von über sechs Jahren)
215,80 EUR Rechtsanwaltsvergütung
20 EUR Auslagenpauschale
Die Zahlungsfrist wurde mit sechs Tagen sehr knapp bemessen. Zusätzlich fordert die Kanzlei, dass der beanstandete Inhalt umgehend aus dem Netz und von sämtlichen Datenträgern gelöscht werden muss.
Nach Einschätzung des Betroffenen könnte die Abmahnung politisch motiviert sein, da es sich um einen kritischen Beitrag über die AfD und rechtsextreme Gruppierungen handelt. Er vermutet einen Zusammenhang mit seiner politischen Positionierung und sieht eine potenzielle Bedrohung der Meinungsfreiheit. Als langjähriger Journalist und Mitglied mehrerer Berufsverbände (PEN Berlin, Verband deutscher Schriftsteller*innen VS, deutsche Journalisten Union, Freischreiber e.V.) betrachtet er die Abmahnung auch als Einschränkung seiner beruflichen Tätigkeit.
Der Betroffene verfügt über eine private Rechtsschutzversicherung und ist zudem in Berufsverbänden organisiert, die ihm juristische Unterstützung bieten könnten. Er beabsichtigt, gegen die Forderung vorzugehen und bezeichnet den möglichen Rechtsstreit als einen "Prozess über die Frage von Meinungsfreiheit im Internet".
Im ausgefüllten Fragebogen gibt der Betroffene an, dass er rechtlichen Schritten in Form eines anwaltlichen Schreibens und einer Schadensersatzforderung ausgesetzt ist. Er vermutet, dass die Gegenseite ein Machtungleichgewicht ausnutzt, unbegründete Argumente vorbringt, unverhältnismäßige Forderungen stellt, Gesetze oder Verfahren missbraucht, die Kosten in die Höhe treibt, mit rechtlicher Einschüchterung arbeitet und extrem kurze Fristen setzt. Insbesondere betont er einen starken Widerwillen der Gegenseite zur außergerichtlichen Einigung.
Anhaltspunkte für SLAPP - nach den Kriterien der EU-Richtlinie 2024/1069 sowie nach den Empfehlungen des Europarats CM/Rec(2024)2
Dieser Fall zeigt mehrere typische Merkmale des Vorfelds einer Strategischen Klage gegen öffentliche Beteiligung (SLAPP) gemäß der Definition der EU-Richtlinie 2024/1069 und den Empfehlungen des Europarats.
Bezug zu öffentlicher Beteiligung
Der Facebook-Beitrag des Betroffenen stellt eine klassische Form öffentlicher Beteiligung dar, wie sie in der EU-Richtlinie definiert wird. Es handelt sich um eine Meinungsäußerung zu einem Thema von erheblichem öffentlichem Interesse (Rechtsextremismus, politische Entwicklungen). Der damit verbundene Kommentar betrifft politische Akteure und deren öffentliches Handeln. Insgesamt ist die Äußerung im Kontext demokratischer Meinungsbildung zu sehen.
Offensichtlich unbegründete oder missbräuchliche Rechtsverfolgung
Mehrere Aspekte deuten auf eine missbräuchliche Rechtsverfolgung hin:
Die ungewöhnlich lange Zeitspanne zwischen dem Teilen des Artikels (2018) und der Rechtsverfolgung (2025)
Die unverhältnismäßig hohe Schadensersatzforderung von 2.000 EUR plus Nebenkosten für einen geteilten Artikel
Die kurze Zahlungsfrist von sechs Tagen, die eine angemessene rechtliche Beratung erschwert
Die fehlende Berücksichtigung gängiger Social-Media-Praktiken und der Tatsache, dass Sharing-Funktionen von Medienportalen explizit angeboten werden
Machtungleichgewicht
Der Betroffene sieht sich als freier Journalist mit begrenzten Mitteln einer großen Medienagentur mit erheblichen finanziellen Ressourcen und spezialisierter Rechtsvertretung gegenüber. Die in diesem Fall scheinbar angewendete systematische Nutzung von KI zur Identifikation potenzieller Klagefälle verstärkt dieses Ungleichgewicht.
Zusammenfassende Bewertung
Auf Basis der EU-Richtlinie 2024/1069 und der Empfehlungen des Europarats CM/Rec(2024)2 weist dieser Fall einige Indikatoren für SLAPP auf. Die Kombination aus:
Unverhältnismäßiger Forderung
Zeitlichem Abstand zur angeblichen Rechtsverletzung
Zusammenhang mit politischer Meinungsäußerung
Ungewöhnlich kurzer Reaktionsfrist
Systematischem Vorgehen mittels KI-gestützter Suche
macht den Fall zu einem typischen Beispiel für die von der No-SLAPP-Anlaufstelle dokumentierten Einschüchterungsversuche. Die scheinbar legitime rechtliche Grundlage (Urheberrecht) wird hier möglicherweise instrumentalisiert, um kritische öffentliche Beteiligung zu sanktionieren und zukünftig zu unterbinden - genau das Kernmerkmal eines SLAPP.