Fallbesprechung: Schadensersatzklage gegen Journalist nach Dokumentation einer Kraftwerksblockade

Als No-SLAPP-Anlaufstelle zum Schutz publizistischer Arbeit in Deutschland dokumentieren wir Fälle, bei denen wir kontaktiert wurden und Anhaltspunkte dafür sehen, die darauf hindeuten, dass es sich nach den Kriterien der EU Richtlinie 2024/1069 sowie den Empfehlungen des Europarats um SLAPP bzw. damit verbundene rechtliche Einschüchterungsformen handeln könnte. Rechtsmissbräuchliche Schritte können auch außergerichtlich zum Einsatz kommen, deshalb dokumentieren wir auch für Fälle, bei denen es (noch) zu keinem gerichtlichen Verfahren gekommen ist, wenn einschlägige Kriterien erfüllt sind .

Wir veröffentlichen unsere Fallbesprechungen in Rücksprache mit den Betroffenen. Maßgeblich sind dabei die Kategorien unseres Fragebogens, der über www.noslapp.de abgerufen werden kann. Der Fragebogen bietet Betroffenen die Möglichkeit, ihren Fall detailliert und anonym zu beschreiben und so abzuklären, ob sie womöglich von einem juristischen Einschüchterungsversuch betroffen sind - bei Bedarf auch ergänzt durch persönliche Beratung.

Im Folgenden finden Sie Hintergrundinformationen zu dem Fall eines Journalisten, der die Blockade eines RWE-Kraftwerks dokumentierte und jetzt gemeinsam mit den Aktivist*innen zivilrechtlich belangt wird, sowie Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen SLAPP im Sinne der EU-Richtlinie sowie der Empfehlungen des Europarats handelt.

Hintergrund des Falls

Im November 2017 wurde der freie Journalist Jannis Grosse in eine ungewöhnliche rechtliche Auseinandersetzung verwickelt. Der Energiekonzern RWE Power AG verklagte ihn zusammen mit fünf Aktivist*innen auf Schadensersatz in Höhe von insgesamt 2,1 Millionen Euro vor dem Landgericht Aachen. Grosse, der für verschiedene Medien arbeitet, war während einer Besetzung des Braunkohlekraftwerks Weisweiler bei Aachen anwesend, um unter anderem für die taz über die Aktion zu berichten. Die Besetzung fand während der UN-Klimakonferenz in Bonn statt und erlangte erhebliche mediale Aufmerksamkeit.

Der Vorfall, auf den sich die Klage bezieht, ereignete sich, als mehrere Klimaaktivist*innen Förderbänder und Bagger des Kraftwerks besetzten und sich an Metallrohren festketteten. Nach Angaben von RWE führte die Aktion zu einer Betriebsunterbrechung mehrerer Kraftwerksblöcke für etwa einen halben Tag. Der Konzern behauptet, ihm sei dadurch ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden entstanden, da er Strom extern zukaufen und einspeisen musste.

Bemerkenswert an diesem Fall ist, dass RWE zum ersten Mal eine neue rechtliche Strategie verfolgt. Während das Unternehmen in der Vergangenheit Kraftwerksbesetzer*innen in der Regel auf Unterlassung verklagte – mit der Folge, dass diese das RWE-Gelände nicht mehr betreten durften – fordert der Konzern nun zum ersten Mal eine hohe Schadensersatzsumme. Noch auffälliger ist, dass nicht nur die Aktivist*innen verklagt wurden, sondern auch der Journalist Grosse.

In der Klageschrift behandelt RWE den Journalisten wie einen Aktivisten, der an der Besetzung teilgenommen habe. Grosse selbst widerspricht dieser Darstellung: Er habe sich an der Blockadeaktion nicht beteiligt, sondern diese lediglich als Journalist dokumentiert.

Die Auseinandersetzung wirft grundlegende Fragen zum Verhältnis von Pressefreiheit und Unternehmensinteressen auf. Die Dokumentation von Protesten und zivilem Ungehorsam gehört zum Kernbereich journalistischer Arbeit, besonders wenn es sich um Themen von erheblichem öffentlichen Interesse wie dem Klimaschutz handelt. Die Höhe der geforderten Summe und die Einbeziehung eines berichtenden Journalisten in die Klage lässt Zweifel aufkommen, ob es RWE tatsächlich nur um Schadenersatz geht oder ob möglicherweise auch eine abschreckende Wirkung auf die Berichterstattung über ähnliche Protestaktionen beabsichtigt ist.

Teil 2: Anhaltspunkte für SLAPP - nach den Kriterien der EU-Richtlinie 2024/1069 sowie nach den Empfehlungen des Europarats CM/Rec(2024)2

Dieser Fall zeigt mehrere typische Merkmale einer Strategischen Klage gegen öffentliche Beteiligung (SLAPP) gemäß der Definition der EU-Richtlinie 2024/1069 und den Empfehlungen des Europarats. 

Machtungleichgewicht zwischen den Parteien

Ein deutliches Machtungleichgewicht ist erkennbar: Auf der einen Seite steht RWE als einer der größten Energiekonzerne Deutschlands mit erheblichen finanziellen und rechtlichen Ressourcen, auf der anderen Seite ein freier Journalist. Dieses Ungleichgewicht ist ein typisches Merkmal von SLAPP-Klagen, wie es auch in anderen dokumentierten Fällen vorkommt. Besonders freie Journalist*innen sind aufgrund ihrer oft prekären wirtschaftlichen Situation besonders anfällig für die einschüchternde Wirkung solcher Klagen.

Angelegenheit von öffentlichem Interesse

Die journalistische Tätigkeit des Betroffenen bezog sich auf ein Thema von hohem öffentlichen Interesse: Klimaschutz, Kohleausstieg und Protestaktionen im Kontext einer UN-Klimakonferenz. Die EU-Richtlinie definiert explizit Angelegenheiten rund um Umwelt und Klima als Themen von öffentlichem Interesse, zu denen freie Meinungsäußerung besonders geschützt werden soll. Die Dokumentation von Protestaktionen zu diesen Themen gehört zum Kernbereich der Pressefreiheit.

Unverhältnismäßige, übertriebene oder unangemessene Ansprüche

Die Forderung von 2,1 Millionen Euro erscheint unverhältnismäßig hoch und gehört zu den Hauptmerkmalen von SLAPP-Klagen. Der CASE SLAPP Report 2024 dokumentiert ähnliche Fälle mit exorbitanten Forderungen, wie etwa €500.000 Defamationsklagen gegen bulgarische Medien oder Shell's Klage über $2,1 Millionen gegen Greenpeace.

Diese Forderungshöhe übersteigt die finanziellen Möglichkeiten eines freien Journalisten bei weitem und hat damit eine potentiell existenzvernichtende und stark einschüchternde Wirkung – unabhängig vom tatsächlichen Verfahrensausgang.

Angriff auf die Pressefreiheit

Die Klage gegen einen Journalisten, der dokumentarisch tätig war, stellt potenziell einen direkten Angriff auf die Pressefreiheit dar. Die No-SLAPP-Anlaufstelle identifiziert Journalist*innen als eine der Hauptzielgruppen von SLAPP-Klagen, und der vorliegende Fall zeigt, wie Berichterstattung über kontroverse Themen durch rechtliche Schritte behindert werden kann.

Strategische Ausweitung des Personenkreises

Besonders auffällig ist, dass RWE den Journalisten in dieselbe Kategorie wie die Aktivist*innen einordnet, obwohl er nach eigener Aussage und laut Darstellung seines Anwalts in professioneller Funktion vor Ort war. Diese Vermischung von Aktivismus und Journalismus könnte darauf abzielen, die Grenzen der legitimen Berichterstattung zu verwischen und einen "Chilling Effect" auf andere Journalist*innen auszuüben, die über ähnliche Protestaktionen berichten möchten.

Neue Strategie und potenzielle Signalwirkung

Der Fall markiert einen strategischen Wandel im Vorgehen von RWE: Bisher wurden Aktivist*innen vorwiegend auf Unterlassung verklagt, nun erfolgt erstmals eine hohe Schadensersatzforderung. Diese Eskalation könnte darauf abzielen, einen Präzedenzfall zu schaffen und eine abschreckende Wirkung über den Einzelfall hinaus zu entfalten. Solche strategischen Rechtsentwicklungen und die damit verbundene "Verrechtlichung der öffentlichen Debatte" sind Kennzeichen von SLAPP-Verfahren.

Zuschreibung einer anderen Rolle

Ein typisches SLAPP-Merkmal ist die Umdeutung legitimer Tätigkeit in vorgeblich illegitimes Handeln. Im vorliegenden Fall wird dem Journalisten eine Rolle als Aktivist zugeschrieben, obwohl er nach eigener Aussage und Angaben seines Anwalts ausschließlich in seiner Funktion als Journalist anwesend war. Diese Uminterpretation professioneller journalistischer Tätigkeit in aktivistische Teilnahme stellt eine besondere Form der rechtlichen Einschüchterung dar, da sie die grundlegende berufliche Identität des Betroffenen in Frage stellt.

Einordnung in bestehende SLAPP-Muster

Der Fall entspricht mehreren der im CASE SLAPP Report 2024 dokumentierten Muster: Er wird von einem Unternehmen angestrengt (45,2% der SLAPP-Fälle in 2023), richtet sich gegen einen individuellen Journalisten (häufigste Zielgruppe), und betrifft Umweltfragen (16,3% der Fälle in 2023). Auch die Verwendung von Zivilklagen (64,3% der SLAPP-Fälle) passt in dieses Muster.

Verschleierung der eigentlichen Motivation

Ein zentrales SLAPP-Merkmal ist die Diskrepanz zwischen dem vorgeblichen und dem tatsächlichen Ziel des Verfahrens. Während RWE offiziell Schadensersatz fordert, deutet die Einbeziehung eines dokumentierenden Journalisten in die Klage darauf hin, dass es möglicherweise auch darum geht, kritische Berichterstattung über Proteste gegen den Konzern zu erschweren und einzuschränken.

Zusammenfassende Bewertung

Der vorliegende Fall weist zahlreiche charakteristische Merkmale einer SLAPP-Klage auf:

  • Extremes Machtungleichgewicht

  • Unverhältnismäßig hohe Forderungen

  • Angriff auf eine geschützte Form der öffentlichen Beteiligung (Pressefreiheit)

  • Thematische Ausrichtung auf ein Thema von öffentlichem Interesse (Klimawandel)

  • Umdeutung professioneller journalistischer Tätigkeit

  • Potential für weitreichende abschreckende Wirkung

Besonders die Kombination aus existenzbedrohender Forderungshöhe und der Einordnung eines Journalisten als Aktivisten deutet auf einen SLAPP-Charakter hin. Die Anti-SLAPP-Richtlinie der EU und die Empfehlungen des Europarats betonen, dass der Schutz journalistischer Arbeit im öffentlichen Interesse ein zentrales Anliegen der Anti-SLAPP-Bemühungen ist.

Es handelt sich hier um einen Fall, der dringend weitere Unterstützung durch die No-SLAPP-Anlaufstelle rechtfertigen würde, da er mehrere "rote Flaggen" für missbräuchliche Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung aufweist und potenziell weitreichende Auswirkungen auf die Pressefreiheit bei der Berichterstattung über Umweltproteste haben könnte.

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Impulse des Anlaufstellen-Beirats zur Richtlinienumsetzung und anderer Anti-SLAPP Arbeit

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Diskursvulnerabilität und Demokratie: Spannungsverhältnis Meinungsfreiheit und Strafrecht