Fallbesprechung: “Kritische Psychotherapie”

Als No-SLAPP-Anlaufstelle zum Schutz publizistischer Arbeit in Deutschland dokumentieren wir Fälle, bei denen wir kontaktiert wurden und Anhaltspunkte dafür sehen, dass es sich nach den Kriterien der EU Richtlinie 2024/1069 sowie den Empfehlungen des Europarats um SLAPP bzw. damit verbundene rechtliche Einschüchterungsformen handeln könnte. Rechtsmissbräuchliche Schritte können auch außergerichtlich zum Einsatz kommen, deshalb dokumentieren wir auch Fälle, bei denen es (noch) zu keinem gerichtlichen Verfahren gekommen ist, wenn einschlägige Kriterien erfüllt sind.

Wir veröffentlichen unsere Fallbesprechungen in Rücksprache mit den Betroffenen. Maßgeblich sind dabei die Kategorien unseres Fragebogens, der über www.noslapp.de abgerufen werden kann. Der Fragebogen bietet Betroffenen die Möglichkeit, ihren Fall detailliert zu beschreiben und so abzuklären, ob sie womöglich von einem juristischen Einschüchterungsversuch betroffen sind - bei Bedarf auch ergänzt durch persönliche Gespräche.

Im Folgenden finden Sie Hintergrundinformationen zum Fall “Kritische Psychotherapie” und Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen SLAPP im Sinne der EU Richtlinie sowie der Empfehlungen des Europarats handelt.

Hintergrund des Falls

Im März 2022 veröffentlichte das Netzwerk Kritische Psychotherapie Köln/Bonn eine wissenschaftliche Analyse des im Hogrefe-Verlag erschienenen Sammelbandes „Kritische Psychotherapie. Interdisziplinäre Analysen einer leidenden Gesellschaft", herausgegeben von Martin Wendisch. Die Analyse kam zu dem Schluss, dass es sich bei dem Buch in weiten Teilen um ein rechtsextremes Werk handele, das unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Kritik verschwörungsideologische, strukturell antisemitische und antifeministische Inhalte verbreite. Der Herausgeber Wendisch hatte selbst 12 der 37 Beiträge verfasst und dabei durchgängig Narrative verwendet, die in der extremen Rechten beheimatet sind – von der Rede über einen „deep state" und eine „Neue Weltordnung" bis hin zu hasserfüllten Tiraden gegen den „Genderismus". Nach Bekanntwerden der Analyse nahm der Verlag Hogrefe das Buch vom Markt und kündigte den Vertrag mit dem Herausgeber.

Anstatt sich inhaltlich mit der fundierten Kritik auseinanderzusetzen, reagierte Wendisch im April 2022 mit einer anwaltlichen Abmahnung. Er forderte das Netzwerk auf, seine kritischen Bewertungen zurückzunehmen und stellte einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung beim Amtsgericht Freiburg. Bei Androhung von 250.000 Euro Strafe oder sechs Monaten Haft sollte dem Netzwerk untersagt werden, vier zentrale Aussagen ihrer Analyse weiterhin zu verbreiten: dass der Herausgeber ein in weiten Zügen rechtsextremes Weltbild habe, eine rechtsextreme Ideologie verfolge, antisemitische Argumentationen verwende und den anderen Autor:innen den inhaltlichen Kontext vorab nicht offengelegt habe.

Das Amtsgericht erklärte sich für unzuständig und reichte den Fall direkt an das Landgericht Freiburg weiter, dasdie Klage im Juni 2022 vollständig abwies und alle Äußerungen als durch die Meinungsfreiheit gedeckte Bewertungen im Rahmen des wissenschaftlichen Fachdiskurses beurteilte. Wendisch legte daraufhin Berufung ein, doch auch das Oberlandesgericht Karlsruhe bestätigte im Januar 2023 das erstinstanzliche Urteil und attestierte der Berufung „offensichtliche Unbegründetheit". Trotz eines weiteren erfolglosen Einspruchs im Februar 2023 setzte Wendisch seine rechtlichen Bemühungen fort und zog im Hauptverfahren vor das Landgericht Frankfurt am Main.

Auch dort erlitt er im Juni 2024 eine deutliche Niederlage. Das Gericht stellte klar fest, dass die Bewertungen des Netzwerks angesichts der im Buch enthaltenen Ausführungen über „deep state" und „Neue Weltordnung" als rechtsextrem gerechtfertigt seien und im Lichte der Meinungsfreiheit zulässig sind.In einem letzten Versuch ging Wendisch erneut in Berufung vor das Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Am 3. Juli 2025 fand die mündliche Verhandlung statt, bei der das Gericht bereits zu Beginn signalisierte, alle fünf Klagepunkte zurückweisen zu wollen. Mit der Urteilsverkündung am 24. Juli 2025 endete der über drei Jahre andauernde Rechtsstreit endgültig zugunsten der Meinungsfreiheit – eine Revision ist nicht möglich. Das Gericht bestätigte damit zum fünften Mal, dass wissenschaftlich fundierte Kritik an rechtsextremen Inhalten auch dann zulässig ist, wenn sie in scharfer Form vorgetragen wird.

Anhaltspunkte für SLAPP - nach den Kriterien der EU-Richtlinie 2024/1069 sowie nach den Empfehlungen des Europarats CM/Rec(2024)2

Der vorliegende Fall weist mehrere charakteristische Merkmale auf, die für eine Einordnung als missbräuchliches Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung (SLAPP) sprechen. Die rechtliche Auseinandersetzung zwischen Martin Wendisch und dem Netzwerk Kritische Psychotherapie Köln/Bonn erfüllt zunächst die grundlegenden Voraussetzungen des Geltungsbereichs der EU-Richtlinie, da es sich um eine Zivilsache mit potentiell grenzüberschreitendem Bezug handelt - der Hogrefe-Verlag agiert international und die wissenschaftliche Debatte überschreitet nationale Grenzen.

Die angegriffenen Äußerungen des Netzwerks stellen eindeutig eine Form der öffentlichen Beteiligung im Sinne der Richtlinie dar. Es handelt sich um Meinungsäußerungen in Ausübung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zu einer Angelegenheit von erheblichem öffentlichen Interesse. Die kritische Auseinandersetzung mit rechtsextremen Inhalten, die unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Publikationen verbreitet werden, berührt fundamentale gesellschaftliche Fragen und trägt zur demokratischen Meinungsbildung bei. Wie das Landgericht Frankfurt feststellte, handelt es sich um einen "Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage". Die Thematik fällt damit unter mehrere in der Richtlinie genannte Bereiche öffentlichen Interesses, insbesondere den Schutz der Grundrechte und demokratischer Prozesse vor ungebührlicher Einflussnahme.

Besonders auffällig sind die Indizien für den missbräuchlichen Charakter des Verfahrens. Die geforderte Summe von 250.000 Euro Ordnungsgeld oder ersatzweise bis zu sechs Monate Ordnungshaft für die Nichtunterlassung wissenschaftlich begründeter Meinungsäußerungen erscheint eklatant unverhältnismäßig. Diese Unverhältnismäßigkeit wird dadurch unterstrichen, dass fünf verschiedene Gerichte - das Landgericht Freiburg, das Oberlandesgericht Karlsruhe (zweimal) sowie das Landgericht und Oberlandesgericht Frankfurt am Main - die Klagen als unbegründet zurückgewiesen und die Äußerungen des Netzwerks als von der Meinungsfreiheit geschützte Werturteile eingestuft haben. Das Landgericht Frankfurt betonte ausdrücklich, dass sich die Äußerungen nicht persönlich gegen den Kläger richteten, sondern einen sachlichen Bezug aufwiesen und auf die Artikel des Klägers in dem Werk rekurrierten.

Die hartnäckige Fortsetzung der rechtlichen Auseinandersetzung über drei Jahre und vier Instanzen trotz durchgehend erfolgloser Verfahren deutet auf eine über die bloße Rechtsdurchsetzung hinausgehende Motivation hin. Wendisch hat nach jeder Niederlage erneut geklagt oder Berufung eingelegt, obwohl die Gerichte einhellig und mit deutlichen Worten seine Ansprüche zurückwiesen. Das Oberlandesgericht Karlsruhe attestierte der Berufung sogar "offensichtliche Unbegründetheit" und empfahl die Rücknahme der Berufung. Diese Verfahrensführung entspricht dem typischen SLAPP-Muster, bei dem der Prozess selbst - mit seinen zeitlichen, finanziellen und psychischen Belastungen - zum eigentlichen Druckmittel wird.

Allerdings muss auch das Gegenindiz berücksichtigt werden, dass der Kläger eine Privatperson ist und durch die Veröffentlichung der Analyse tatsächlich erhebliche negative Konsequenzen erlitten hat. Der Hogrefe-Verlag beendete den Autorenvertrag und nahm das Buch vom Markt. Dies unterscheidet den Fall von klassischen SLAPP-Konstellationen, in denen typischerweise finanzstarke Unternehmen oder mächtige Einzelpersonen gegen kritische Stimmen vorgehen. Wendischs Versuch, die aus seiner Sicht falschen Darstellungen richtigzustellen, könnte zunächst als legitimes Anliegen erscheinen.

Dennoch überwiegen die SLAPP-Indizien deutlich. Der entscheidende Punkt ist, dass Wendisch nicht etwa eine Gegendarstellung oder wissenschaftliche Replik verfasste, sondern versuchte, die fundierte Kritik mittels rechtlicher Drohungen aus dem öffentlichen Diskurs zu entfernen. Die extreme Höhe des geforderten Ordnungsgeldes steht in keinem Verhältnis zum vermeintlichen Schaden durch wissenschaftliche Kritik. Zudem bestätigten alle Gerichte, dass die Kritik des Netzwerks sachlich begründet und von der Meinungsfreiheit gedeckt war. Die systematische Nutzung des Rechtssystems zur Unterdrückung legitimer Kritik an rechtsextremen Inhalten stellt eine besondere Gefahr für den demokratischen Diskurs dar.

Der Fall zeigt exemplarisch, wie SLAPP-Verfahren auch von Einzelpersonen ausgehen können, wenn diese versuchen, berechtigte Kritik an problematischen Inhalten durch rechtliche Einschüchterung zum Schweigen zu bringen - insbesondere, wenn sie motiviert durch rechtsextreme Ideologien agieren. Die erfolgreiche Abwehr dieser Klage durch das Netzwerk Kritische Psychotherapie hat damit über den Einzelfall hinaus Bedeutung für die Verteidigung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in Deutschland.

Mehr Informationen finden sich auf der Website Kritische Psychotherapie Köln/Bonn: https://kritische-psychotherapie.de/kritik-von-rechtsaussen/

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Zensur, Persönlichkeitsrecht, Meinungsfreiheit - Übersicht über ein historisches Spannungsfeld