Fallbesprechung: “Schlachthofprozess”
Als No-SLAPP-Anlaufstelle zum Schutz publizistischer Arbeit in Deutschland dokumentieren wir Fälle, bei denen wir kontaktiert wurden und Anhaltspunkte dafür sehen, dass es sich nach den Kriterien der EU Richtlinie 2024/1069 sowie den Empfehlungen des Europarats um SLAPP bzw. damit verbundene rechtliche Einschüchterungsformen handeln könnte. Rechtsmissbräuchliche Schritte können auch außergerichtlich zum Einsatz kommen, deshalb dokumentieren wir auch Fälle, bei denen es (noch) zu keinem gerichtlichen Verfahren gekommen ist, wenn einschlägige Kriterien erfüllt sind .
Wir veröffentlichen unsere Fallbesprechungen in Rücksprache mit den Betroffenen. Maßgeblich sind dabei die Kategorien unseres Fragebogens, der über www.noslapp.de abgerufen werden kann. Der Fragebogen bietet Betroffenen die Möglichkeit, ihren Fall detailliert zu beschreiben und so abzuklären, ob sie womöglich von einem juristischen Einschüchterungsversuch betroffen sind - bei Bedarf auch ergänzt durch persönliche Gespräche.
Im Folgenden finden Sie Hintergrundinformationen zum “Schlachthofprozess” um Aufnahmen, die Animal Rights Watch sowie die ARD veröffentlicht haben.
Hintergrund des Falls
Im Frühling 2024 installierte die Tierrechtsaktivistin der Organisation Animal Rights Watch (ARIWA), Anna Schubert, auf dem Betriebsgelände des Schlachthofs Brand Qualitätsfleisch GmbH & Co. KG in Lohne im Landkreis Vechta Kameras in der CO2-Betäubungsanlage und dokumentierte den Betäubungsprozess von Schweinen mit hochkonzentriertem Kohlendioxid.
Die aufgenommenen Videos zeigen den standardisierten Schlachtvorgang: Schweine werden in Gondeln getrieben und mit einer Art Fahrstuhl in eine Senke mit Kohlendioxid gefahren. Die Aufnahmen dokumentieren, wie die Tiere während des Betäubungsvorgangs unruhig werden, schreien und Fluchtversuche unternehmen. Auf den Bildern sind auch Blutspuren an den Metallstäben der Gondeln zu sehen, die auf Verletzungen der Tiere hinweisen.
Die heimlich aufgenommenen Videos wurden über die Website von Animal Rights Watch veröffentlicht und von verschiedenen Medien aufgegriffen, darunter auch ARD plusminus. Die Organisation ARIWA stellte die Aufnahmen in den Kontext einer generellen Kritik an der CO2-Betäubung von Schweinen, die sie als "brutal und tierquälerisch" bezeichnete. Begleitend zu den Veröffentlichungen organisierte ARIWA Protestaktionen vor dem Schlachthof.
Der Schlachthofbetreiber, vertreten durch Niko Brand, wies die Vorwürfe zurück und betonte, dass sein Betrieb alle gesetzlichen Vorgaben einhalte und unter ständiger Kontrolle der Veterinärbehörden stehe. Brand Qualitätsfleisch leitete sowohl zivil- als auch strafrechtliche Schritte ein.
Im Zivilverfahren vor dem Landgericht Oldenburg klagte das Unternehmen gegen zwei Aktivist*innen auf Unterlassung der Verbreitung der Aufnahmen sowie auf Feststellung, schon eingetretene und zukünftige Schäden zu ersetzen. Im Laufe des Prozesses bezifferte das Unternehmen die schon erlittenen Schäden auf 98.000 Euro. Die Klage stützte sich auf die Verletzung des Hausrechts sowie die Verletzung des Unternehmerpersönlichkeitsrechts. Noch bevor diese zivilrechtlichen Schritte eingeleitet wurden, erstattete der Betrieb Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs.
Bei einer Güteverhandlung am Landgericht Oldenburg scheiterte ein Vergleichsversuch. Der Anwalt des Schlachthofbetreibers hatte angeboten, auf Schadenersatz zu verzichten, wenn die Tierrechtler*innen garantierten, dass die Bilder vollständig zurückgezogen würden. Die Aktivist*innen lehnten dieses Angebot ab und begründeten ihre Entscheidung damit, dass die Öffentlichkeit ein Recht auf die Bilder habe.
Am 16. Juli 2025 erging das Urteil des Landgerichts Oldenburg (Az. 5 O 326/25). Das Gericht verurteilte Anna Schubert dazu, die Verbreitung der Videos zu unterlassen und auf deren Löschung von der ARIWA-Website hinzuwirken. Zwei Aktivist*innen wurden außerdem zu Schadenersatz verurteilt, wobei die konkrete Höhe in einem separaten Verfahren ermittelt werden soll. Der Streitwert wurde auf 140.000 Euro festgelegt.
Bereits veröffentlichtes Material, etwa in ARD-Beiträgen, darf wohl weiterhin gezeigt werden. Das Gericht stellte ausdrücklich fest, dass die Videoaufnahmen authentisch und nicht manipuliert sind.
Anhaltspunkte für SLAPP - nach den Kriterien der EU-Richtlinie 2024/1069 sowie nach den Empfehlungen des Europarats CM/Rec(2024)2
Geltungsbereich der EU-Richtlinie
Der Fall erfüllt die grundlegenden Voraussetzungen für die Anwendung der EU-Richtlinie 2024/1069. Es handelt sich um eine Zivil- und Handelssache mit zivilrechtlich geltend gemachten Ansprüchen aus den §§ 823, 824, 1004 BGB sowie dem Eigentumsrecht. Obwohl parallel ein strafrechtliches Verfahren wegen Hausfriedensbruchs läuft, bezieht sich die vorliegende Klage auf zivilrechtlichen Schadensersatz und fällt damit in den Anwendungsbereich der Richtlinie.
Öffentliche Beteiligung zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse
Die Aktivitäten von Anna Schubert und Hendrik Haßel stellen eine klassische Form öffentlicher Beteiligung dar. Die Veröffentlichung des heimlich erstellten Materials, das die Betäubungspraktiken dokumentiert, stellt eine Ausübung des Rechts auf Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit dar. Die heimlichen Aufnahmen dienten der Aufklärung der Öffentlichkeit über Tierschutzfragen - einem Bereich, der eindeutig unter die Kategorie "Grundrechte" der EU-Richtlinie fällt, da Tierschutz als Staatsziel in Artikel 20a des Grundgesetzes verankert ist.
Das öffentliche Interesse an der Thematik wird durch mehrere Faktoren unterstrichen: Die Veröffentlichung der Aufnahmen durch die ARD zeigt die mediale Relevanz auf, die begleitenden Demonstrationen verdeutlichen das gesellschaftliche Interesse, und die anhaltende wissenschaftliche Debatte über CO2-Betäubung unterstreicht die Relevanz für Verbraucher*innen und Tierschutz. Besonders bedeutsam ist, dass die Öffentlichkeit normalerweise keinen Einblick in Schlachtpraktiken erhält, da Medien in der Regel keine Drehgenehmigungen für solche Einrichtungen erhalten.
Erhebliches Machtungleichgewicht
Das Machtungleichgewicht zwischen den Parteien ist augenfällig. Die Brand Qualitätsfleisch GmbH & Co. KG ist ein etabliertes Unternehmen mit einem Jahresumsatz im dreistelligen Millionenbereich und wird von der großen Hamburger Anwaltskanzlei GvW Graf von Westphalen vertreten. Bezeichnend ist, dass die Klage gezielt gegen die beiden Aktivist*innen als Privatpersonen gerichtet wurde und nicht gegen den Verein ARIWA oder die ARD, die das Material ebenfalls verbreitet haben. Diese Fokussierung auf finanziell schwächere Einzelpersonen ist ein klassisches Merkmal von SLAPP-Verfahren.
Nur teilweise begründete Klage
Ein weiteres charakteristisches Merkmal des SLAPP-Charakters zeigt sich in der nur teilweisen Begründetheit der Klage. Das Landgericht Oldenburg konnte Hendrik Haßel die Veröffentlichung der Videos nicht nachweisen - ein zentraler Punkt der Anklage. Während Anna Schubert für die Verbreitung der Aufnahmen verurteilt wurde, blieb die Klage gegen Haßel in diesem entscheidenden Punkt erfolglos. Diese Teilerfolglosigkeit deutet darauf hin, dass die ursprünglichen Vorwürfe nicht vollständig haltbar waren und die Klage möglicherweise zu breit angelegt wurde, um beide Aktivist:innen unter Druck zu setzen.
Unverhältnismäßige und überhöhte Forderungen
Der gerichtlich festgesetzte Streitwert von 140.000 Euro erscheint für die zugrundeliegenden Handlungen unverhältnismäßig hoch.
Koordinierte rechtliche Strategie
Das Unternehmen verfolgt eine mehrgleisige Strategie: Neben der Zivilklage wurde Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs erstattet. Diese Doppelstrategie erhöht den Druck auf die Betroffenen erheblich und bindet deren begrenzte Ressourcen auf verschiedenen rechtlichen Ebenen.
Fragwürdige Schadensbehauptungen
Obwohl das betroffene Unternehmen nach Auffassung des Landgerichts durch sichtbare Banner an der Gebäudefassade und die Ortsangabe "Lohne" oder "Vechta" identifizierbar ist, wurde eine konkrete Rufschädigung bzw. der behauptete Schaden durch den Eingriff ins das Unternehmerpersönlichkeitsrecht nicht beziffert nachgewiesen. Die Klägerin behauptet zudem, die Videos enthielten manipulierte Tonspuren, was jedoch von den Aktivist:innen bestritten wird und die rechtliche Bewertung erheblich beeinflussen würde. Das Gericht hat in seinem Urteil bestätigt, dass es sich um authentische Aufnahmen handelt.
Rechtfertigungsgründe und öffentliches Interesse
Die Dokumentation der CO2-Betäubung und mutmaßlicher Tierschutzverstöße könnte durch das überragende öffentliche Interesse gerechtfertigt sein. Besonders relevant ist, dass das Unternehmen öffentlich mit tierfreundlichen Praktiken wirbt, was eine intensivere öffentliche Kontrolle rechtfertigt. Auch rechtswidrig erstelltes Videomaterial kann rechtmäßig veröffentlicht werden, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht.
Einschüchterungseffekt und gesellschaftliche Wirkung
Das Verfahren entfaltet eine erhebliche Abschreckungswirkung, die weit über den konkreten Fall hinausgeht. Die drastischen finanziellen Konsequenzen - mit angedrohten Ordnungsgeldern bis zu 250.000 Euro - senden eine klare Botschaft an andere potenzielle Whistleblower*innen und investigative Aktivist*innen. Diese Drohkulisse kann die demokratische Debatte über Tierschutz und Verbraucherinformation nachhaltig beeinträchtigen und dazu führen, dass wichtige gesellschaftliche Missstände unaufgedeckt bleiben.
Strategische Delegitimierung
Die Rhetorik des Schlachthofbetreibers deutet auf eine strategische Delegitimierung der Kritiker*innen hin. Die Darstellung als "selbsternannte Tierrechtler" mit einem auf "Spendenkampagnen ausgerichteten Geschäftsmodell" versucht, das eigentliche Anliegen - die Aufklärung über Tierleid - zu diskreditieren und als kommerzielle Aktivität darzustellen. Diese Argumentationsstrategie ist typisch für SLAPP-Verfahren, bei denen die Motivation der Kritiker*innen in Frage gestellt wird, anstatt sich mit den vorgebrachten sachlichen Argumenten auseinanderzusetzen.
Rechtliche Widersprüchlichkeit
Das Urteil des Landgerichts Oldenburg weist charakteristische Widersprüche auf, die für problematische Entscheidungen in SLAPP-artigen Verfahren typisch sind. Einerseits bestätigte das Gericht die Authentizität der Videos und erkannte deren Relevanz für die öffentliche Debatte an, andererseits verhängte es dennoch weitreichende Sanktionen gegen die Aktivist:innen. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit - die Anerkennung des öffentlichen Interesses bei gleichzeitiger Bestrafung der Aufklärer:innen - zeigt die strukturellen Probleme auf, mit denen investigative Publizierende sowie Gerichte bei derartigen Fällen konfrontiert sind.
Gesamtbewertung
Der Fall Brand Qualitätsfleisch gegen die ARIWA-Aktivist*innen weist nahezu alle charakteristischen Merkmale eines SLAPP-Verfahrens auf. Das erhebliche Machtungleichgewicht, die unvollständige Begründetheit, die unverhältnismäßig hohen Forderungen, die strategische Fokussierung auf Einzelpersonen statt auf die eigentlich verantwortlichen Organisationen und die koordinierte Verfolgung auf mehreren rechtlichen Ebenen sprechen eindeutig für den missbräuchlichen Charakter der Klage.
Besonders problematisch ist, dass ein legitimes öffentliches Interesse an der Aufklärung über Tierschutzverstöße durch die Androhung ruinöser Kosten unterdrückt wird. Die Aktivist*innen haben authentisches Material über eine gesellschaftlich hochrelevante Praxis dokumentiert, die von Wissenschaft und Tierschutzorganisationen seit Jahren kritisiert wird. Dass sie dafür mit existenzbedrohenden finanziellen Forderungen konfrontiert werden, während das dokumentierte Tierleid ungesühnt bleibt, verdeutlicht die Schieflage im deutschen Rechtssystem beim Umgang mit investigativem Aktivismus.
Der Fall illustriert exemplarisch, wie das Rechtssystem missbraucht werden kann, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und die demokratische Meinungsbildung zu untergraben. Er zeigt die dringende Notwendigkeit effektiver Anti-SLAPP-Mechanismen auf, die Whistleblower*innen und investigative Aktivist*innen vor solchen strategischen Einschüchterungsversuchen schützen.